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"Der Himmel ist einssiebzig groß" - Textauszüge



Zehn Leben
(Seite 33)

Mittags laufen wir ins Wiedener Tal. Irgendwas fehlt heute. Gustav sagt nichts, und ich habe auch keine Lust zum Reden. Am See werfen wir Kiesel übers Wasser. Dann laufen wir die Wiesen hinauf, bachaufwärts, bis mich Gustav am Steinkreuz nach rechts zieht. Schließlich stehen wir vor der krummen Eiche und klettern hinauf. Oben sind immer noch die Bretter unserer ehemaligen Baumhütte. Wir setzen uns an die alten Plätze, ich im Schneidersitz gegen den Stamm und Gustav mit baumelnden Füßen an den Rand.

So saßen wir früher stundenlang, lasen Comics, schnitzten, oder schauten einfach nach oben durch das Blätterdach in den Himmel. Samstags hörten wir in einem alten Transistorradio die Fußballübertragungen, und an so einem Samstag verriet ich Gustav mein größtes Geheimnis. Seine Laune war etwas gedämpft, weil der Club zwei null verloren hatte, meine Truppe hatte vier eins gewonnen, und um Gustav auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ich, was ich noch nie erzählt hatte. Dass ich zehn Leben hatte. Nicht sieben wie eine Katze, nicht zwei wie ein Hund, zehn!

„Nicht dein Ernst“, sagte er.

„Doch mein Ernst“, sagte ich. Das hieß, eines, gab ich zu, hatte ich schon verloren. Mit fünf Jahren war ich im Freibad ertrunken, als ich nach einem Fünfmarkstück tauchte. Aber neun hätte ich auf jeden Fall noch.

Gustav stellte das Radio ab. Er war stärker beeindruckt, als von allem anderen, was ich ihm je erzählt hatte. Und nach einem Moment fragte er, ob ich ihm nicht ein oder zwei dieser Leben vermachen könne. Er bot mir sogar sein neues Springmesser und eine nur leicht verkratze Armbanduhr. Es war zwecklos, ich hätte ihm sofort zwei oder auch drei dieser Leben rübergeschoben, auch ohne Messer und Uhr, doch mit diesen Leben war es wie mit den Sommersprossen auf meinem Rücken. Man konnte sowas nicht tauschen. Das sah Gustav ein, stellte das Radio wieder an und sagte, ich solle nie mehr davon reden, wenn ich sein Freund bleiben wolle.

Wir redeten auch nicht mehr davon, doch für mich wurde mit dem Tag alles anders. Natürlich wusste ich, das meine zehn Leben nur ausgedacht waren, aber dadurch, dass Gustav die Idee ernst nahm, fing auch ich an, daran zu glauben. Meine zehn Leben wurden so wirklich wie die Sommersprossen auf meinem Rücken. Ich sah sie nicht, doch ich wusste jederzeit, dass sie da sind. Und manchmal sah ich sie auch. Auf einer Brücke, hoch oben im Ausguck unseres Baums, und jedes Mal, wenn ich in der verfallenen Mühle über einen Balken balancierte. Ich wurde so leichtsinnig, dass ich sogar Gustav unheimlich wurde. Was sollte mir passieren? Ich hätte immer noch die anderen acht Leben gehabt.

Ich ging in die Schule, als wär´s nur ein Spiel. Die Lehrer waren Theaterfiguren, die Klassenarbeiten ein Spaß zwischen den Pausen, und nicht mal den dicken Fender fürchtete ich, der einen grün und blau schlagen konnte, wenn man seinen Unterricht störte. Sollte er schlagen, sollte der Direktor seine Briefe abfeuern, wenn es mir zu bunt oder zu blass wurde, konnte ich jederzeit Schluss machen und eine neue Runde beginnen. Sogar meine Eltern merkten, dass ihre „Erziehungsversuche“ nichts nutzten und ließen mir mehr und mehr durchgehen.

Als ich älter wurde, so in der Zeit, als wir nicht mehr schaukelten, sondern die Schaukeln nur noch zum Sitzen benutzten, wurde mir schon klar, dass das mit den neun Leben ein Unsinn war. Ich dachte auch immer seltener daran, aber das heimliche Gefühl, noch etwas in der Hinterhand zu haben, blieb trotzdem bestehen. In die Schule gehen, Kassetten tauschen, am Weiher rumhängen, das war halt nicht alles, auch wenn es nach außen so aussah. Ich machte mit, gab mir Mühe, nicht aufzufallen, aber letztlich konnte ich nichts so richtig wichtig nehmen. Ich gewann Wetten, weil mir das Ergebnis egal war, und den Mädchen fiel ich auf, weil ich keiner nachlief. Ich stand zwar auch mit den andern am Busbahnhof, aber ich verrenkte mich nicht. Schielte eine rüber, freute ich mich, bekam ich einen Korb, steckte ich ´s weg. Ich lachte über das Ganze und lachte noch über mein Lachen, ich war nicht zu greifen. Für mich war alles nur vorläufig.

Das erste Mal, dass mir etwas ernst wurde, war, als Großmutter starb. Ich war gerade sechzehn geworden, als sie mich an ihr Bett riefen. Ich stand neben ihr, sah wie ihre Augen immer größer wurden und zur Decke starrten. Ein paar Mal hob sie die Hände, als würde diese Decke oder das ganze Haus auf sie zukommen. Schließlich hörte sie gar nicht mehr auf, in unendlicher Zeitlupe durch die Luft zu fuchteln, und dazu sagte sie immer wieder etwas, das niemand verstand. Mein Onkel schickte mich raus, und als ich wieder ins Zimmer kam, war es vorbei. Ihr Mund stand offen, doch es war kein Mund mehr, nur noch eine seltsame Öffnung. Und ihre Augen sahen jetzt aus, als wären sie aufgemalt. Graue Murmeln auf grauer Haut.

Die ganze Nacht bin ich nachher durch den Wald gelaufen. Das war kein Spiel mehr, das war ernst, zum ersten Mal für mich, zum letzten Mal für Großmutter. Nach jener Nacht war es vorbei mit meinen zehn Leben. Ich bin durch den Wald gerannt, habe gefroren und zum ersten Mal richtig Angst gehabt. Als ich morgens zurückkam, und den Schreiner sah, wie er den Kasten verlud, wusste ich, dass jeder nur eine Chance hat.

Vier Jahre sind inzwischen vergangen. Ich betrachte das Blätterdach, den Fetzen Himmel darüber, eine Schwalbe fliegt mitten hindurch. Schließlich mache ich ein Bein lang und stoße Gustav mit dem Fuß.

„Gustav, hast du schon mal jemanden sterben sehen?“

„Ja“, sagt er, „voriges Jahr. Die Kuh vom alten Hardeck.“

„Nein, ich meine einen Menschen.“

Er schüttelt den Kopf, schaut immer noch zwischen seinen baumelnden Beinen nach unten.

„Was meinst du“, frage ich, „ist Sterben schwer?“

Er streckt die Arme aus, hängt sich an einen Ast und fängt an zu pendeln.

„Sterben? Sterben ist leicht, ist wie Fallen. Leben ist schwer. Leben musst du nämlich selber.“ Sagt es und stürzt sich wie früher mit einem langen Schrei nach unten.

Ich bleibe sitzen, schaue ihm nach, wie er durch die Schonung geht, bald einen Stock aufnimmt und rechts und links ins Gras schlägt.

So verstört und ehrlich habe ich ihn selten gesehen. Sonst sagt er immer, Mädchen seien wie Luftballons. Man müsse schon viele am Arm haben, damit einem leichter ums Herz wird. Und jetzt zieht ihn eine, die er gar nicht am Arm hat, so nach unten. Und vom Leben sagt er sonst höchstens, dass es ein verborgener Witz sei, dem man auf die Pointe helfen müsse. Jetzt gibt er zu, daß es ihm manchmal auch schwer fällt. Aber um Gustav braucht man sich keine Sorgen zu machen. Seine Flucht geht immer nach vorne. Er wird sich retten, in Luftballons und in Pointen. Gustav ist genau so, wie dieser Nietzsche im Merkheft die alten Griechen beschrieben hat. Er ist oberflächlich, aus Tiefe.

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Wie man ein Mädchen anspricht (Seite 43)

Also paß auf, Junge! Lange hinschauen ist schon verkehrt. Denk daran, du bist nicht bei der Autoschau. Streif sie zwei-, dreimal beim Panoramablick, bis du weißt, daß sieīs auch ist. Dann stehst du auf und kommst ganz zufällig bei ihr vorbei. Denk daran, du siehst sie jetzt zum ersten Mal, das Hoppla muß dir ins Gesicht springen. Natürlich nicht wie Weihnachten, aber so ein bißchen Staunemann kannst du schon reinlegen. So ein, zwei Sekunden bist du sprachlos, dann eröffnest du mit einer Mischung aus lieb und witzig. Wenn sie blöd oder gar nicht reagiert, laß sie stehen, manchen ist nicht zu helfen. Wenn sie lacht oder nur irgendwie freundlich ausatmet, bleibst du dran. Sag noch ein paar lustige Sachen, daß die Stimmung auch stimmt. Aber hüte dich vor Sprüchen, die schon zwei Wochen auf jeder Klowand stehen. Sei spontan und ein bißchen originell. Vielleicht hast du mittags auch in den neuesten Sprüche-Kalender geschaut, macht sich immer gut. Und wo du kannst, hängst du īne Frage dran, soll ja mal īn Dialog werden.

So zwischen zwei Gags bestellst du zu trinken, den Keeper kennst du natürlich mit Vornamen. Frag ruhig, ob sie auch noch was will. Wenn sie jetzt schon ja sagt, kannst duīs nachher abkürzen. Sagt sie nein, mußt du über die volle Distanz.

Du hast also zu trinken und prostest jetzt auf was Nettes. Auf daß sie ihr liebes Lächeln nicht verliert, irgend so was. Aber mit dem Glas nur andeuten. Wenn sie anstoßen will, ist das ihre Sache. Du drängst dich nicht auf, hast du nicht nötig. Kleine Pause, damit der Toast auch wirken kann, dann redest du weiter. Merk dir, Pausen sind schlecht und ab īner halben Minute tödlich. Falls du īnen Durchhänger hast, nimm schnell noch mal īnen Schluck. Oder īne Zigarette. Drehen ist auch nicht verkehrt, hat was Gemütliches, was Fingerbegabtes. Natürlich nicht in der Disco, da hängen sie dir gleich den Arbeitslosen an.

So mit der Zeit schwenkst du zu was Ernsterem. Satz für Schluck schaffst du Vertrauen. Red ruhig offen, mach auf ehrlich. Denk daran, Macho ist out, aber zerfließ auch nicht, Softis waren noch nie echt in. Am besten geht noch Chauvi mit Herz, das ist zeitlos. Sympathisch der Kerl, macht nicht nur Quatsch, kann man auch reden mit. Das mußt du rüberbringen, unbedingt. Beim zweiten Drink sprichst du schon leiser, rückst ein bißchen näher. Bestimmte Sachen sagst du ihr nur ins Ohr. Aber halt keinen Vortrag, bloß nicht. Weichreden ist īne Vertreterkrankheit und hat noch nie funktioniert. Sprich ruhig die Punkte hinter deinen Sätzen mit. Was du sagst, das steht. Und was du fragst, reißt Tore auf.

Fahr ihr jetzt ruhig mal an den Arm, oder an den Oberschenkel, falls ihr sitzt. So ohne Absicht natürlich, ganz im Gespräch, und nicht zu lang.

Wenn du sie zum Erzählen bringst, bist du fast durch. Dann hat sie dir den Vertrauenstypen abgenommen. Aber jetzt nicht lässig werden. Du mußt voll umschalten und den Zuhörer machen, also ernste Miene, Faltenstirn, Betroffenheitsblick. Auf keinen Fall darfst du in die Gegend schauen, auch nicht heimlich. Wenn sie es merkt, kannst du einpacken und zwei Meter weiter von vorne beginnen. Am besten du hältst den Blick gesenkt auf den Boden, den Tisch oder ihre Beine. Und ab und zu gehst du dann groß in ihre Augen.

Trink auch nichts, solange sie spricht. Du nimmst das Glas in die Hand, führst es zum Kinn, verharrst und stellst es wieder hin. Das macht Eindruck, mehr als ‘ne halbe Stunde Reden.

Unterbrich sie öfters, frag nach, als ob duīs genauer wissen wolltest. Überhaupt, du hängst an ihren Lippen, als hättest du was Spannenderes noch nicht gehört. Alles drumherum ist verbrannt, vergessen, holīs der Holocaust, ihr seid allein. Aber nick nicht zuviel in der Faszination, das wirkt wie ein Tick. Und die ‘Hms’ mußt du genau dosieren, eher zu wenig. Du bist jetzt der Schweiger, der sie versteht, der Freund, der das Leben kennt, der Mann zum Anlehnen halt.

Dann reichtīs. Du nimmst sie an den Schultern, dein Blick trifft sehr gerade und direkt in die Augen. Komm, sagst du, hier ist nicht der rechte Platz, für dich - und mich!

 

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