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"Der Panflötenmann" - Textauszüge


 


Männer vor einem Bordellbesuch
(Seite 47 ff)

Sankt Johann war nie Sankt Pauli gewesen, aber es hatte eine Handvoll Hotels beherbergt, mehrere Trinkbuden, einen Bauschuttcontainer und vor allem Tante Mo. Tante Mo hieß eigentlich Herbert, und seine Kneipe lag in einem heruntergekommen Eckhaus, das den Vorzug besaß, am Eingang zur Kappengasse zu liegen. Und in der Kappengasse standen die Damen. Oder lehnten in offenen Fenstern. Oder spazierten, bis zu den Laternen und wieder zurück. Ich stand jetzt unter dem Straßenschild, nahm Zigaretten heraus und schaute mir das Mo noch einmal an. Tante Mo war mein Revier gewesen, als ich noch hinter Brieftaschen her war. Bei Herbert traf sich alles, was vor oder nach den Damen noch einmal Luft holen mußte. Vor allem zu Messezeiten flogen einem die Börsen wie Brieftauben zu.
Männer vor einem Puffbesuch, es gab kaum eine leichtere Beute. Sie waren aufgedreht wie junge Hunde, bevor die Tür zum Garten aufgeht. Die meisten hatten den Spannergang hinter sich und nahmen bei Herbert erst mal ein Bier zur Beruhigung. Dann brauchten sie noch ein paar Gläser für die Courage, und dazwischen mußten sie andauernd pinkeln. Zwischen Theke und Klo war ein Gewusel wie in der Umkleide vor einem Endspiel. Und ich war der Zeugwart und sammelte die Wertsachen ein.
Ich hielt mich an die Geschäftsleute und vorzugsweise an Geschäftsleute in Gruppen. Ich hütete mich vor Einzelgängern, und vor allem mied ich eins wie die Pest: Männer nach ihrem Puffbesuch. Die kamen nämlich wieder ins Mo. Gut, manche kamen als Helden, brannten noch ein paar Bier ab und suchten die Schulter des Kumpels: Haben wir ´s denen besorgt! Die hätte man womöglich wieder abzocken können. Aber die meisten kamen ziemlich leise zurück. Das Bier machte sie jetzt beinahe nüchtern. Sie bestellten noch einen Schnaps. Die Leere im Schritt machte sensibel. Sensibel und sentimental. Jetzt ein Griff an die Börse, und sie haben dich am Schlafittchen. Bewahre, keine Männer mit nüchternen Hoden. Nicht mal die Helden. Deren Parade war meistens auch nur gespielt.
Aus den Börsen nahm ich nur Bares. Ich behielt die Scheine, den Rest warf ich bei der Basilika in den Postschlitz. Und das war der Fehler, denn genau dort paßten sie mich irgendwann ab. Nicht die Polizei, aber der Rausschmeißer von Herbert und einer der Jungs, die in der Gasse die Zimmer vergaben. "Du bist das!" fing der Rausschmeißer an. "Hab ich mir schon gedacht!" meinte der andere. Sie bugsierten mich hinter den Bauschuttcontainer, und dort ging es im Takt. "Und du meinst, du kannst hier einfach so klauen!" Er klatschte mir gegen die Schulter. "Einfach unsere Gäste ausnehmen!" Der ging auf die Stirn. "Ehrbare Bürger!" Dumpfe Gerade. "Die ein bißchen Spaß haben wollen!" Zum Magen. "Architekten!" "Stadträte!" "Richter!" Ich merkte noch, wie dem Vierkant von Herbert die Beiträge ausgingen. Dafür schlug er dann härter. Der andere hatte noch Beiträge, das fuchste den ersten noch mehr. Dann merkte ich nichts mehr.

Ich drückte die Zigarette aus und schaute die Gasse hinauf. Wo die kleinen Zimmer gewesen waren, lag jetzt das Großraumbüro einer Ersatzkasse. Auch Herbert lebte schon lange nicht mehr hier. Erst hatte er als Etienne ein Restaurant aufgemacht, dann verschwand er ganz aus der Stadt. Es lohnte nicht mehr, sie hatten das Viertel trockengelegt wie einen Sumpf. Und mit dem Ungeziefer war auch meine Kundschaft verschwunden. Die Zeit der Kappengasse war vorbei - wie meine. Wer klaute heute noch Brieftaschen und Bares, kein Mensch legte noch Hand an. Wer heute was drehte, saß mit einem Martini vor einem Computer und kraulte den Hund. Es war gut, daß ich aufgehört hatte. Und durchhielt, immer geradeaus auf einen ehrlichen Job. Ehrliche Arbeit, wie das schon klang. Den Ausdruck hatten wahrscheinlich die Schlauen erfunden, damit die nicht so Schlauen ein Leben lang durchhielten.

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Ein Land, das nur für mich bestimmt war (Seite 222)

Eine gute Weile, bevor der Wecker ging, wurde ich wach. Es war die Stunde, in der man diese Stadt am wenigsten spürte. Die Menschen schliefen noch, die Straßen lagen still, sogar die Möbel um uns herum schienen zu schlafen. Ich setzte mich auf und war in einer Weise wach, als hätte ich ausgeschlafen für immer. Vera lag als schöne Linie unter der Decke, und ich saß daneben und schaute sie an. So verging eine Ewigkeit. Oder eine Minute. Es war der Moment, wenn die Schaukel ganz oben steht. Und was du als Kind gewünscht hast, wird wahr. Die Schaukel bleibt am höchsten Punkt stehen. Ihren ganzen Schwung spürst du in dir, und du hast das Gefühl, er wird nie wieder verschwinden.

Ich stand auf und zog meine Kleider an. Den Wecker stellte ich für Vera auf eine spätere Zeit. Ich schrieb ihr einen Zettel und fand es nicht einmal albern, ein kleines Herz darunter zu malen. Dann ging ich, bis zur Bushaltestelle war es nur um den Block. Ich setzte mich in das offene Häuschen und steckte mir eine Zigarette an. Gleich würden sie kommen. Menschen, die ihren Kaffee kochten in kleinen Küchen morgens um fünf. Leute, die dir nicht einmal drei Sekunden in die Augen schauen konnten. Mit schweren Händen, stummen Körpern und mit Gesichtern, die nur noch eines zu sagen schienen: Laßt mich in Ruh! Bis gestern war ich einer davon. Daß es so etwas gab. Als hätte ich plötzlich das Land gefunden, für das ich als Junge so oft zur Autobahn lief. Wenn ich da oben am Hang saß und all den Volkswagen und DKWs hinterhersah, war ich sicher, daß es irgendwo ein Land geben müsse, das nur für mich bestimmt war. Jetzt war dieses Land in mein Zimmer gekommen. Und jeder Pflasterstein, jede Mülltonne, jeder Hof in diesem lausigen Viertel erzählte davon. Ich schnippte die Kippe hinaus und brannte mir gleich noch eine an. Sie schmeckte! Alles schmeckte um mich herum. Sagenhaft, diese Welt war über Nacht wie gemacht für mich. Und ich - war wie gemacht für die Welt. Mein Arsch paßte genau in den Plastiksitz.

 

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